EIN MANN JENSEITS VON GUT UND BÖSE
Der ehemalige FBI-Agent und einstige Kriegsveteran Joe (Joaquin Phoenix) lebt mit seiner Mutter (Judith Roberts) in New York und ist das, was man wohl am ehesten ein seelisches Wrack nennen mag. Gezeichnet von seinen Erlebnissen im Krieg, Job, aber auch schon früh in der Kindheit erleben wir einen Mann, dessen Leben immer auf der Neige zum Abgrund steht, von grausigen Flashbacks durchzogen ist und der sich regelmäßig mit einer Plastiktüte nahezu bis zum Tod erstickt. Joaquin Phoenix verkörpert die Figur dieses Menschen am Rande des Wahnsinns gekonnt, sowohl durch die schauspielerische Leistung, aber auch durch die Inszenierung des von Narben gezeichneten Körpers, den er wie einen Sack Elend durch New Yorks labyrinthartige Gassen zieht. Joe sagt nicht viel im Film, doch Dialogarmut behindern Phoenix nicht, im Gegenteil, sie lassen den Film durch sein herausragendes Spiel umso stärker werden
Wenn er nicht daheim seinen inneren Dämonen nachhängt, arbeitet Joe als Auftragsskiller. Dabei konzentriert er sich insbesondere auf Opfer des kriminalisierten Sexhandels, um diese aus den Klauen von Kinderschändern zu befreien – und die Täter auf Wunsch des Kunden mit einem Hammer bis zu Tode zu quälen. Eines Tages wird ihm ein Fall eines vermissten Mädchens namens Nina (Ekaterina Samsonov) herangetragen, der Vater, der Senator Votto (Alex Manette), möchte den Fall gerne fernab der Öffentlichkeit erledigt wissen. Joe nimmt an und landet bei seiner Suche in einem Kinderbordell mitten in New York und ahnt nicht, dass die Befreiungsaktion von Nina einen riesigen Komplott nach sich zieht, bei dem ihm Haufen Menschen nach dem Leben trachten.
EIN BRUTALER FILM MIT STILLEN MOMENTEN
Vorneweg gesagt, der Film lebt nicht durch die Handlung an sich, diese passt auf eine Streichholzschachtel. Sie lebt ohne Untertreibung durch Joaquin Phoenix und dessen Meisterleistung. Der Film sowie die anderen Akteure fungieren im Grunde nur als Spiegelbild von Joe, dessen Odyssee und Talfahrt wir als Zuschauer folgen. Seltsamerweise fühlt man sich bei Phoenix‘ Darstellung von Joe auch an seine Irrsinns-Doku „I’m Still Here“ erinnert (Vielleicht ist der englische Titel „You Were Never Really Here“ auch ein Bezug dazu). Regisseurin Ramsey lässt Phoenix im Film auch die völlige Bandbreite einer zerbrochenen Existenz auszuleben.
Mittels Kamera-Einstellungen und langen stillen Szenen (Joes minutenlanger Blick in den Badezimmerspiegel, Ertrinken im See) erhält Joe eine tiefe, fast schon überirdische Position, die aber beständig im Film brachial durch die brutalen Szenen ausgeglichen wird. Die einzigen Lichtpunkte in dieser Reise nach unten sind zwei Frauen: Joes Mutter und Nina, die der Hauptfigur so etwas wie Lebenssinn geben. Weder Judith Roberts noch Ekaterina Samsonov werden im Film viel Platz für ihre Rollen gegönnt und doch schaffen sie es durch wenige Striche der Regisseurin ein treffende Wirkung zu erzielen. Besonders Jungschauspielerin Ekaterina Samsonov überrascht mit ihrer starken Performance des stoischen Kindes, das in jungen Jahren soviel Leid und Horror erlebt hat, dass selbst Joe schwächlich wirkt.
Obwohl das Ende sehr schnell absehbar ist und auch die darin vorkommenden blutigen Elemente fast schon obligatorisch wirken, sind es letztlich weniger die Gewaltakte, sondern Joes Beziehung zu Nina, welche die Spannung des Films aufrecht hält. Wer sich hier auf ein action-geladenes Finale freut, denn enttäuscht Ramsey mit einer sensiblen Szenerie aus langen Einstellungen.
Der deutsche Kinostart ist für den 26. April 2018 angekündigt.